Medizin für Milliarden

Der gesellschaftliche Nutzen von Medikamenten ist Teil des Selbstverständnisses und soziale Nachhaltigkeitsdimension der Pharmabranche. Für die Glaubwürdigkeit dieser Ambition spielt der weltweite Zugang zu Arzneimitteln eine wichtige Rolle.

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Bereits 1946 hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer Satzung ein globales Grundrecht auf bestmögliche Gesundheitsversorgung für alle Menschen formuliert. 77 Jahre später haben noch immer rund zwei Milliarden Menschen keinen Zugang zu dringend benötigten Medikamenten. Dies zeigt der jüngste Access to Medicine Index. Der Index prüft die Bemühungen von 20 der weltweit führenden Pharmaunternehmen bei der Verbesserung des Zugangs zu Medikamenten, Impfstoffen und Diagnostika für Menschen in Staaten mit niedrigem und mittlerem Einkommen.

Globale Gesundheitsversorgung im Ungleichgewicht

Jedes Jahr sterben Millionen Menschen insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern an Krankheiten, weil Medikamente, Impfstoffe und Diagnosetests nicht verfügbar oder nicht bezahlbar sind. Laut einem jüngst veröffentlichten UNO-Bericht starben allein im Jahr 2020 weltweit mehr als eine Viertelmillion werdende Mütter. 70 Prozent der Todesfälle ereigneten sich dem Bericht zufolge in afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Zu den häufigsten Komplikationen zählten etwa schwere Blutungen, Bluthochdruck, Folgen von unsicheren Abtreibungen oder Krankheiten wie Aids und Malaria, die durch eine Schwangerschaft verschärft werden können. Ebenso könnte der Tod von Millionen Babys und Kindern verhindert werden, wenn eine entsprechende medizinische Versorgung und die notwendigen Medikamente vorhanden wären.

Impfteam in Simbabwe

ATMI

Der Access to Medicine Index wird seit 2008 alle zwei Jahre von der Access to Medicine Foundation herausgegeben. Diese Stiftung wird unter anderem von der britischen Regierung, dem niederländischen Außenministerium und der Bill & Melinda Gates Foundation finanziert.

Geschäft für ayurvedische Medizin in Kabul
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Weitgehend abgeschnitten von westlicher Gesundheitsversorgung: ein Geschäft für ayurvedische Medizin in der afghanischen Hauptstadt Kabul.

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Nur wenige der großen Pharmaunternehmen sind bisher in diesem Bereich stark mit der Forschung und Entwicklung (F&E) beschäftigt. Sicherlich auch aus Kostengründen konzentrieren sich diese Firmen bei der teuren und komplexen F&E vor allem auf die Bekämpfung weniger Krankheiten wie Malaria, HIV/Aids, Tuberkulose, die Chagas-Krankheit und Leishmaniose, wo bereits sehr gute Ergebnisse erzielt werden konnten.

Die WHO hat allerdings weitere 45 Krankheiten identifiziert, die einen größeren Stellenwert bei der Arzneimittelentwicklung bekommen sollten. Dazu zählen Krebserkrankungen, aber auch zunehmend Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die besonders in den Schwellenländern aufgrund der Entwicklung hin zu einer älter werdenden und wohlhabenderen Gesellschaft zunehmen. Ein weiteres Problem ist, dass die Arzneimittel in vielen Fällen das hohe Preisniveau der Industrieländer widerspiegeln.

Der Preis allein ist nicht entscheidend

Beim weltweiten Zugang zur Gesundheitsversorgung spielt neben dem Preis für Medikamente auch die Effektivität der nationalen Gesundheitssysteme eine Rolle, genauso wie eine oft fehlende Infrastruktur des Gesundheitswesens. Dazu zählen die Stromversorgung und beispielsweise die notwendigen Kühlschränke zur Lagerung von Medikamenten und Proben. Neben diesen Herausforderungen bestehen in manchen Fällen vonseiten der Bevölkerung Vorbehalte wie die Angst vor Stigmatisierung. Für die Lösung dieser Probleme braucht man einen Stakeholder-Ansatz, der sowohl Pharmaunternehmen und Regierungen als auch lokale Interessengruppen zusammenbringt. So können die verschiedenen Perspektiven, Ressourcen und Erfahrungen nutzbar gemacht werden.


Die wichtigsten Player beim Zugang zu Medizin

Quelle: Keren Bright, Open University Law School.

Hohe Krankenstände und eine hohe Sterberate sind nicht nur persönliche Schicksale, sondern bedeuten auch einen großen volkswirtschaftlichen Schaden. Diesbezüglich entstehen neue Gefahren: Spätestens die Coronapandemie hat gezeigt, wie schnell aus einer Epidemie eine Pandemie werden kann. „Teile der Weltbevölkerung von der Gesundheitsversorgung auszuschließen birgt also auch immer ein Risiko für den Rest der globalisierten Welt“, sagt Kristina Kern, ESG-Analystin bei Union Investment. Die Risiken steigen zudem, je mehr Infektionskrankheiten durch den Klimawandel zunehmen. „Auch wenn Forschung und Entwicklung neuer Medikamente die Bedrohung nicht allein beheben kann, halten Pharmaunternehmen einen wichtigen Schlüssel in der Hand, um diese Lage zu verbessern“, so Kern.

Auch wenn Forschung und Entwicklung neuer Medikamente die Bedrohung nicht allein beheben kann, halten Pharmaunternehmen einen wichtigen Schlüssel in der Hand, um diese Lage zu verbessern.
Kristina Kern

ESG-Analystin bei Union Investment

Zugang zu Medizin ist ein ESG-Thema

Dies sind Gründe, weswegen sich nachhaltig orientierte Investoren dafür interessieren, ob und wie Pharmaunternehmen auch in Staaten mit niedrigem und mittlerem Einkommen einen Zugang zu Medizin bereitstellen. „Access to Medicine“ stellt unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten ein soziales Thema dar, das auch in den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) der Vereinten Nationen berücksichtigt wird. Vor diesem Hintergrund fließt der weltweite Zugang zu medizinischer Versorgung in die ESG-Bewertung von Pharmaunternehmen ein. Nicht zuletzt ist damit auch in der Pharmabranche die Bereitschaft der Unternehmen gewachsen, ihre F&E-Ergebnisse zu quantifizieren und zu dokumentieren, mit denen sie eine wachsende Zahl Erkrankter in Staaten mit niedrigem und mittlerem Einkommen erreichen können. Der Access to Medicine Index misst diese Erfolge und zeigt Nachholbedarf auf. Er ist inzwischen eine der wichtigsten Datenquellen für das Nachhaltigkeitsresearch im Pharmasektor. „Gleichzeitig geben die Auswertungen Impulse zur Verbesserung von Geschäftsmodellen“, erläutert Kristina Kern. „Denn das Thema bietet Chancen bei der Erschließung neuer Märkte.“ Dabei sind etwa die Schwellenländer wegen ihres Bevölkerungswachstums und eines zunehmenden wirtschaftlichen Wohlstands nicht zu unterschätzen, wenn es um nachhaltige Geschäftsmodelle für die Zukunft geht.

SDG 3 Gesundheit und Wohlergehen

SDGs

Die 17 Social Development Goals (SDGs) wurden 2015 von den Vereinten Nationen als globale Ziele für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 verabschiedet. Das SDG 3 thematisiert Gesundheit und Wohlergehen.

Viele Wege führen zum Ziel

Global den Zugang zu Medikamenten zu verbessern ist immer auch eine Frage der Kostengestaltung für die Patientinnen und Patienten. In vielen Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen ist die Krankenversicherung nicht oder nur in Teilen vorhanden, und die Erkrankten müssen die Behandlung oftmals selbst zahlen. Hier beschreiten einige Unternehmen bereits innovative Wege. Dazu zählt etwa die Einführung variabler Preis- und Bezahlmodelle. Dabei können beispielsweise die Verkaufspreise an den wirtschaftlichen Stand in den jeweiligen Absatzmärkten angepasst werden. So hat der japanische Pharmakonzern Takeda ein Hilfsprogramm zur finanziellen Unterstützung bedürftiger Patientinnen und Patienten in Thailand entwickelt. Novartis setzt außer auf die Originalmarken auch auf Präparate für Schwellenländer wie Indien und Mexiko, die sich unterschiedliche Einkommensgruppen leisten können. Weitere Möglichkeiten eröffnen Public Private Partnerships, mit denen Pharmaunternehmen ihre Position in schwierigen Märkten durch Partnerschaften mit lokalen Herstellern festigen können, zum Beispiel durch Lizenzvereinbarungen, bei denen Firmen ihre patentgeschützten Präparate für Generikahersteller in strukturschwächeren Ländern zur Herstellung und zum Vertrieb freigeben.

Produktion von Malariamedikamenten im Kongo
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Produktion vor Ort: Das Pharmaunternehmen Pharmakina in Bukavu/Kongo ist ein öffentlich-privates Partnerschaftsprojekt, welches Medikamente gegen Malaria und für HIV-Infizierte herstellt.

Foto: © Thomas Imo/Photothek via Getty Images

Es bleibt viel zu tun

Seit der Access to Medicine Index eingeführt wurde, hat das Thema in der Wahrnehmung der Investoren an Bedeutung gewonnen. Aber noch ist die Weltgemeinschaft weit davon entfernt, das Grundrecht auf bestmögliche Gesundheitsversorgung für alle Menschen sicherzustellen. „Über das ESG-Research und Engagement zu Fokusthemen hat Union Investment als nachhaltiger Investor Werkzeuge in der Hand, um gemeinsam mit den Portfoliounternehmen investmentrelevante, soziale Themen wie den Zugang zu Medizin voranzutreiben“, sagt Kristina Kern.

Der Access to Medicine Index 2022

Was wird bewertet? Und wer ist führend bei der Verbesserung des Zugangs zu Medikamenten?

Stellschraube für Nachhaltigkeit

 

Die gesellschaftliche Bedeutung des Healthcare-Sektors drückt sich auch in der Investmentrelevanz sozialer Aspekte für diese Unternehmen aus. Damit verbunden ist der Zugang zu Medizin insbesondere für Unternehmen aus der Pharmabranche ein wichtiges Thema in der Nachhaltigkeitsbewertung. Anhand der sozialen Nachhaltigkeitsdimension eröffnet sich sowohl für Unternehmen als auch für Investoren ein großes Potenzial, operative und soziale Kennzahlen im Einklang miteinander zu entwickeln, um einen positiven finanziellen Mehrwert zu schaffen. Bestechend daran ist, dass mit der Verfügbarmachung von Arzneimitteln zum einen Risiken gesenkt werden können, wie etwa die Gefahr von Pandemien. Andererseits bietet dieses Feld auch enorme Chancen, Zukunftsmärkte zu erschließen. Hier ist allerdings Kreativität gefragt und auch Innovationsfreude – neue Partnerschaften und Geschäftsmodelle müssen erforscht und entwickelt werden, genauso wie neue Medikamente. Union Investment begleitet und unterstützt Unternehmen im konstruktiven Dialog als Asset Manager bei der Weiterentwicklung ihrer Access-Strategien. Hierzu gehören auch der Dialog und Kooperationen mit Nichtregierungsorganisationen. In diesem Sinne ist Union Investment zu Beginn dieses Jahres der Access to Medicine Foundation als Signatory Investor beigetreten.


Stand aller Informationen, Erläuterungen und Darstellungen: 19. April 2023, soweit nicht anders angegeben.

Hinweis: Die Nennung von Einzeltiteln und Unternehmen dient ausschließlich der Illustration und stellt keine Kauf- oder Verkaufsempfehlung der Titel dar. Die genannten Unternehmen müssen nicht Bestandteil der Portfolios von Union Investment sein. Einschätzungen können sich ändern, und das Unternehmen kann auf Veränderungen bereits reagiert haben.

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